Steuer- und Sozialsystem benachteiligt Geringverdiener
Wie die am Donnerstag in Gütersloh veröffentlichte Studie der Bertelsmann Stiftung belegt, werden Geringverdiener durch das Steuer- und Sozialsystem deutlich stärker belastet als Spitzenverdiener. Danach können gerade für untere Einkommensgruppen Mehrarbeit und Lohnzuwächse dazu führen, dass am Monatsende weniger Geld im Portemonnaie landet. Spitzenverdiener hingegen behalten von einem zusätzlich verdienten Euro deutlich mehr Netto vom Brutto.
Wissenschaftler des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung ZEW untersuchten für die Studie, im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, die Höhe der sogenannten effektiven Grenzbelastung in sechs repräsentativen Musterhaushalten.
Der Wert der Grenzbelastung gibt an, welcher Anteil eines zusätzlich verdienten Euros durch die Abzüge aufgrund von Beiträgen zur Sozialversicherung, Einkommenssteuern oder durch den Entzug von Sozialleistungen wie Wohngeld oder Kinderzuschlag, einbehalten würde.
Im Ergebnis bleibt danach einem Singlehaushalt mit einem Jahreseinkommen von 17.000 Euro von einem hinzuverdienten Euro nichts übrig.
In extremen Fällen kann ein Mehrverdienst sogar zu Mindereinkommen führen. Wird beispielsweise ein abgabenfreier 450-Euro-Minijob eines ALG II-Beziehers auf 600 Euro aufgestockt, dann wird der Mehrverdienst zu 100 Prozent auf den ALG-Bezug angerechnet, aber zusätzlich noch mit Sozialabgaben belastet. Ähnliche Effekte gibt es, wenn alleinverdienende Niedriglöhner oder alleinerziehende Mütter bestimmte Einkommensgrenzen überschreiten und dann die Berechtigung für den Bezug von Wohngeld beziehungsweise Kinderzuschlag verlieren.
Ganz anders sieht es bei einem Bruttoeinkommen von 75.000 Euro aus, hier wandern anders als bei dem Geringverdiener 56 Cent mehr in der Haushaltskasse.
Eine ähnliche Konstellation zeigt sich bei Ehepaaren mit zwei Kindern und einem Alleinverdiener, wie die Untersuchung aufzeigt. Bei einem jährlichen Bruttoverdienst von 40.000 Euro blieben hier von einem hinzuverdienten Euro nur 56 Cent netto übrig. Auch hier könne ein vergleichbarer Haushaltstyp mit mehr als doppelt so hohem Einkommen von 90.000 Euro einen Zuverdienst von 66 Cent verzeichnen.
„In einigen Fällen finden wir Grenzbelastungen von über 120 Prozent, der hinzuverdiente Euro sorgt damit für 20 Cent netto weniger in der Haushaltskasse“, sagt Manuela Barisic, Wirtschaftsexpertin der Bertelsmann Stiftung. Auch bei Alleinerziehenden fallen die Belastungen insbesondere im unteren Einkommensbereich sehr hoch aus.
Fazit
Der Studie zufolge könnte eine tiefgreifende Reform sowohl der Besteuerung als auch der verschiedenen Transferleistungen die strukturelle Benachteiligung von Geringverdienern beseitigen. Grundlage dafür sei eine „ganzheitliche Betrachtung der Abgabenbelastung, um die beschriebenen negativen Effekte überwinden zu können“ so die Projektleiterin der Bertelsmann-Stiftung, Manuela Barišić, gegenüber Pressevertretern.
Nach Einschätzung der Autoren könnten so Anreize zu deutlich erhöhter Erwerbstätigkeit des betroffenen Personenkreises führen, zumal der Arbeitsmarkt nach wie vor sehr aufnahmefähig sei. Jenseits des Transferleistungs- und Niedriglohnsektors könnten laut der Studie Reformen dazu beitragen, dass es für mehr Menschen attraktiver wird, mehr zu arbeiten.
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