Bundeskanzler Friedrich Merz hat in einer Rede auf dem Kommunalkongress des deutschen Städte- und Gemeindebundes in Berlin umfassende Prüfungen der Ausgaben im Sozialbereich angekündigt und dabei insbesondere die Jugend- und Eingliederungshilfe angegriffen. Das brachte ihm nun deutliche Kritik, nicht nur seitens des Koalitionspartners SPD ein.
Jugend- und Eingliederungshilfe im Fokus – laut Merz „nicht länger akzeptabel“
Konkret bezog sich Friedrich Merz auf die steigenden Aufwendungen für die Jugendhilfe und die Eingliederungshilfe. Er sagte: „Dass wir allerdings jährliche Steigerungsraten von bis zu 10 Prozent über Jahre hin, bei der Jugendhilfe, bei der Eingliederungshilfe sehen, das ist so nicht länger akzeptabel. Da müssen wir gemeinsam nach Wegen suchen, wie den zu Recht Bedürftigen genauso Rechnung getragen wird wie der Leistungsfähigkeit der öffentlichen Haushalte.“
Diese Äußerung kann nicht anders verstanden werden, als dass sie ein Frontalangriff auf die Leistungen der Jugend- und Eingliederungshilfe ist. Bundeskanzler Merz lässt hier in beeindruckender Weise scheuklappenähnlich die zu den Steigerungsraten beitragenden Faktoren weg. Da wären dringend notwendige und lange schon überfällige Tarifsteigerungen im sozialen Bereich. Da wäre eine aufgrund des demographischen Wandels und der fortschrittlichen Medizin gestiegene Lebenserwartung auch von Menschen mit Beeinträchtigung. Da wäre die im Laufe der Corona-Pandemie noch einmal verstärkte Spreizung des Abstandes zwischen sehr armen und sehr reichen Menschen, die natürlich und selbstverständlich im Bereich der Armen zu einem erhöhten Bedarf führt. Es gibt mehr Kinder und Jugendliche, die unverschuldet in prekären finanziellen Verhältnissen aufwachsen und deren Eltern ganz einfach auf die staatliche Unterstützung angewiesen sind. Diese Liste lässt sich noch beliebig fortsetzen, aber alle aufgeführten Punkte haben eines gemeinsam: sie werden von Friedrich Merz nicht erwähnt, denn sie passen wohl nicht in das gewünschte Narrativ. Merz suggeriert viel lieber, dass sich Kinder, Jugendliche und Menschen mit Beeinträchtigungen auf Basis von Teilhabeleistungen ein schönes Leben machen.
Als weiteren Höhepunkt seiner Ausführungen setzt Merz die Bedürfnisse der Leistungsempfänger:innen in Verbindung mit der „Leistungsfähigkeit der öffentlichen Haushalte“. Was soll uns dieser Bezug nun sagen? Gute Inklusion gibt es jetzt nur noch in bestimmten, wohlhabenderen Kommunen? Ist das Grundrecht auf gleichberechtigte Teilhabe am Leben zukünftig abhängig vom gewählten Wohnort?
Eins ist klar: im Bereich der Leistungen an Kinder, Jugendliche und Menschen mit Beeinträchtigungen darf der Rotstift nicht angesetzt werden!
Prompte Kritik aus vielen Richtungen
Die Äußerungen des Bundeskanzlers blieben natürlich nicht ohne mediales Echo, unter anderem auch aus der eigenen Koalition:
„Es ist schwer erträglich, wie Herr Merz versucht, Menschen mit Behinderungen sowie Kinder und Jugendliche in schwierigen Lebenslagen gegeneinander und gegen die Allgemeinheit auszuspielen.“
(SPD-Vizefraktionsvorsitzende Dagmar Schmidt im stern)
„Mit dieser pauschalen Aussage unterstellt der Kanzler, dass Menschen mit Behinderung und ihre Familien sowie Kinder und Jugendliche zu Unrecht Leistungen beziehen und zu viel Geld kosten. Das ist ungeheuerlich! Menschen mit Behinderung erhalten ausschließlich bedarfsgerechte Unterstützung, damit sie am gesellschaftlichen Leben gleichberechtigt teilhaben können. Das wird ihnen schon im Grundgesetz garantiert, wo es heißt: Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Wer denkt, Menschen mit Behinderung machen sich ein schönes Leben auf Kosten des Staates, der irrt gewaltig.„
(Bundesvorsitzende der Lebenshilfe Ulla Schmidt in einer Pressemitteilung)
„Wenn der Kanzler den Sozialbereich zur „Kostenlawine“ erklärt, meint er Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind. Er stellt Grundrechte zur Disposition, unter dem Deckmantel von Effizienz.
Die Eingliederungshilfe ist kein Luxus. Sie ist Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben. Wer hier den Rotstift ansetzt, sägt an der Menschenwürde. Was Merz jetzt fordert, ist kein Kassensturz. Es ist ein Kurssturz. Zurück in die Vergangenheit. Zurück zur Verwaltung von Behinderung. Zurück zur Aussonderung.“
(Corinna Rüffer, Sprecherin für Behindertenpolitik der Bündnis90/Die Grünen Bundestagsfraktion in einer Pressemitteilung)
„Die Aussagen von Friedrich Merz zu der Überprüfung von Mitteln in der Eingliederungs- und Jugendhilfe sind gerade jetzt absolut inakzeptabel. Bundeskanzler Merz stellt das Fundament einer solidarischen Gesellschaft infrage. Wer suggeriert, diese Leistungen seien frei gestaltbar und nicht an den Menschen zu orientieren, gießt Wasser auf die Mühlen sozialer Spaltung. Es ist ein alarmierendes Signal, wenn ausgerechnet bei denen, die unsere Unterstützung am dringendsten brauchen, der Rotstift angesetzt werden soll und die Frage nach dem Mehrwert in den Mittelpunkt rückt. Gesetzliche Leistungen für Kinder, Jugendliche und Menschen mit Behinderungen sind nicht verhandelbar!“
(Michael Groß, Präsident des AWO Bundesverbandes in einer Pressemitteilung)
Diesen Aussagen ist aus unserer Sicht nichts hinzuzufügen! Was wir jedoch gerne hinzugefügt hätten, wäre ein Statement aus dem Bereich der Diakonie Deutschland oder der Diakonischen Werke in Niedersachsen. Leider lassen sich zum jetzigen Zeitpunkt, also auch drei Tage nach Friedrich Merz Rede, keinerlei Äußerungen der diakonischen Verbände auf ihren Internetseiten finden.